Die Zukunft ist längst da

Posted by Simon Höher and Andi Pawelke
— 7 min read
Die Zukunft ist längst da

Schon vergessen?

Wenn es einen Dauerbrenner bei der Gestaltung von Innovation gibt, dann ist es die Zukunft. Das ist einleuchtend: Die ewige Suche nach besseren Lösungen, neuen Strategien und disruptiven “Game Changern” ist die zentrale Ressource für jede Organisation – in der (Stadt-)Politik, in InnoLabs und Stadtlaboren, in der Entwicklungszusammenarbeit und den Projekten zivilgesellschaftlicher Gruppen

Sie alle wissen: Die beste Innovation ist immer die, die noch kommt. Hier stecken die Projektbudgets, die politischen Mehrheiten und die attraktivsten Pitch-Stories. Zukunftsvisionen sind erstmal nicht widerlegbar. Sie laden ein zum kollektiven Träumen und beschäftigen sich nur selten mit den oft langweiligen Herausforderungen der Gegenwart.

Ein Treppenwitz

Dabei ist diese Suche nach Dem Neuanfang™️, der alles richtet, meistens ziemlich ernüchternd. Der Spagat aus Rufen nach der rettenden Transformation einerseits (sei sie nun digital, ökonomisch, ökologisch oder alles davon) und den Bestandsaufnahmen der Transformationsprojekte der Vergangenheit andererseits ist beeindruckend. Die vor Jahren geplanten und durchgeführten Innovationen liegen längst hinter uns und trotzdem ist alles wie es ist? Öffentliche Innovation neu Denken – ein Treppenwitz?

Ein bisschen. Denn wir finden: Zum Neu-Denken gehört auch ein Blick aufs Alte – und auf unseren Umgang mit der Zukunft selbst. Dort verbergen sich zwei Einsichten, die recht folgenschwer sind für unseren Umgang mit Veränderungsprozessen:

Die Zukunft, ein Treppenwitz?

Änderungen vorbehalten

Erstens: Zukunft bleibt unbekannt. Das gilt auch für den zukünftigen Effekt von Innovation. Auch den der Neuanfänge. Und sogar für unseren Blick darauf: Was wir heute noch bejubeln, bewerten wir vielleicht morgen schon ganz anders. Vom Auto über Atomkraft bis zu Montags-Demos: Die Dinge sind rückblickend betrachtet selten so einfach wie von vorne.

Es geht daher heute meist nicht mehr um die Planung irgendeiner voraussagbaren Zukunft. Die meisten seriösen Zukunftsforscher:innen haben längst eingesehen, dass die Trends der Gegenwart immer nur so lange anhalten, bis sie es eben nicht mehr tun. Allerspätestens seit Corona ist diese Einsicht ein Gemeinplatz. Stattdessen sprechen wir heute über Zukünfte im Plural – und verweisen darauf, dass die Zukunft offen, unsicher und voller Erwartungen, Sorgen und Wünsche der Gegenwart ist. Das heißt: Je mehr wir über die zukünftige Gegenwart sprechen, desto mehr sprechen wir eigentlich über die gegenwärtigen Zukünfte in unseren eigenen Köpfen, in unseren Organisationen und Netzwerken.

Daraus folgt, zweitens, dass unsere Vergangenheit die Basis für die Suche nach dem Neuen ist: Sie bestimmt, auf welchen Grundannahmen wir überhaupt in die Zukunft schauen können, aus ihr wachsen all die erlernten Routinen und Expertisen, die Geschichten über die Ziele und Themen, die unsere Strategien und Initiativen erst ermöglichen. Was für die Zukunft die Erwartung ist, ist für die Vergangenheit das Erinnern. Und das heißt auch: Alles, was nicht erinnert wird, wird irrelevant, vernachlässigt, vergessen (und das ist das Allermeiste). Es macht Platz für Neues.

Das Schwierige daran ist nun, dass es ziemlich unmöglich ist, sich als Organisation mit den Dingen, die vergessen wurden, auseinanderzusetzen: Ein System weiß nicht, was (geschweige denn warum) es vergessen hat. Wir haben es auf der Suche nach neuen Innovationen nicht nur mit einer unbekannten aber gestaltbaren Zukunft zu tun, sondern auch mit einer erinnerbaren aber oft vergessenen Vergangenheit.

Zukunftsschau ist Selbstschau

Hört ihr die Signale?

Was hat das nun mit Öffentlicher Innovation zu tun? Ziemlich viel. Denn es hilft, sich beide Seiten der Medaille bewusst zu machen, um die Balance zu halten zwischen Neuanfang und Ernüchterung. Wenn wir vom Neu-Denken Öffentlicher Innovation sprechen, meinen wir das auch genau so: Wir müssen Dinge anders machen. Wir wissen aber auch, dass dies vielerorts längst der Fall ist.

So kann aus der Ernüchterung auch Ermutigung werden: Die Zukunft ist längst hier? Na umso besser, schauen wir mal nach! Dann wird schnell deutlich: Es gibt zahlreiche Initiativen, Organisationen und Kollektive, die längst neu denken. Sie sind die schwachen Signale einer zukünftigen Gesellschaft, die einen nachhaltigeren Umgang mit ihren großen Krisen gelernt hat, in der notwendige Veränderungen als das erkannt werden, was sie sind. (Übrigens ☝🏽: auf der Suche nach diesen Signalen ist auch ein Blick in die eigene Organisation oft lohnenswert: Wo finden bei uns die künftigen Veränderungen heute schon im Kleinen statt? Welche Teams arbeiten und denken heute schon so, wie wir es alle tun sollten? Welche “positiven Abweichungen” entdecken wir bei unseren Kolleg:innen?)

Lernen als Standortbestimmung

Uns inspirieren dabei Organisationen wie EIT Climate-KIC, deren Mission es ist, "den systemischen Wandel für den Klimaschutz zu fördern.” Climate-KIC arbeitet unter anderem mit dem sogenannten Portfolio-Ansatz (dazu bald hier mehr), um effektive Antworten auf die komplexen Herausforderungen der Klimakrise zu finden. Dazu, so die CEO von Climate-KIC Kirsten Dunlop, braucht es komplett neue Denkweisen und Ansätze systemischer Innovation:

"Ich lebe und arbeite in einer Welt, in der ich ständig aufgefordert werde, eine wettbewerbsorientierte Logik auf Innovation anzuwenden; also einen Haufen Ideen zu begrüßen, aber dann Kriterien für die Auswahl der besten zu finden.

Das bedeutet, ich soll filtern, wofür ich meine Ressourcen wirklich einsetzen sollte. Oft ist das Beste gleichbedeutend mit dem Profitabelsten oder dem Attraktivsten für den Markt, denn das ist die Hauptannahme darüber, wie sich die Welt verändert. [...]

Es gibt Vorschläge, die am ehesten [...] den Erwartungen verschiedener Finanzierungsquellen [...] oder dem Finanzierungsbedarf entsprechen. Und das bedeutet in der Regel, dass ich Projekte auswählen muss, die klare und nachweisbare Ergebnisse vorweisen können, die sichtbare Resultate und kurzfristige Erfolge vorweisen [...], die vielleicht einen anständigen Gewinn als übergreifenden Erfolgsindikator in einer Welt vorweisen können, in der sich alles um marktgesteuerte Finanzströme dreht.

Aber wenn wir das verlangen, verlangen wir von Innovation, dass sie das derzeitige System, unsere bestehenden Ideen, unsere derzeitigen Vorstellungen von Wohlstand, Erfolg, Effektivität und Wachstum reproduziert. Und wir wissen, dass dieses System kaputt ist."

Auch große, internationale Organisationen wie die OECD und UNDP arbeiten vermehrt mit systemischen Ansätzen, um Innovation aus Nischen und kleinen Laboren in die Breite zu bringen. Dabei setzen auch sie unter anderem auf besagte Portfolio-Ansätze, die je nach Organisation und Kontext als innovation portfolios, portfolio of learning options oder systems portfolios bezeichnet werden. Dahinter stehen oft sehr aufwendige Prozesse, die ein Team von Portfolio Designer:innen mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre, beschäftigen können.

Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zahl weiterer Organisationen, Projekte und Menschen, die unser eigenes Denken mitprägen: Auf die CHÔRA Stiftung und ihre Arbeit zu funnelling vs layering und systemischer Transformation haben wir bereits in unserem ersten Artikel verwiesen. Ähnlich denkt auch das Team von Dark Matter Labs. Auch hier geht es immer wieder um das Neu-Denken von Finanzierung, Infrastruktur und Governance. Das Agirre Lehendakaria Center dagegen ist vor allem bekannt für ihre Deep Listening Methodologie, mit dem Ziel, eine umfassende Beteiligung von Bürger:innen in systemischen Veränderungsprozessen sicherzustellen. Wohlgemerkt, bei all diesen praktischen Ansätzen geht es zunächst darum, einen Ausgangspunkt zu finden, sich in einem System “zu positionieren”, um damit vor allem eins zu ermöglichen: gezieltes Lernen.

Auf Spurensuche in der eigenen Zukunft

Zudem gibt es unzählige Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Forschungsprogramme, die den Grundstein für unser heutiges Begriffsverständnis gelegt haben: Mariana Mazzucato und Dan Hill wollen wir hier aufführen, da ihre Arbeit zu Missionen, die nun unter anderem auch von der Bundesregierung als zentrales Gestaltungselement für Transformation gesehen werden, eng mit der Frage von neuem Denken von komplexen Ansätzen und Methoden verknüpft ist. Hinzu kommen Forschungsprogramme aus der Ökologie, der Soziologie, der Psychologie, der Ökonomie und der Architektur, die in den letzten Jahrzehnten die Grundlagen gelegt haben für die differenzierte und zukunftsweisende Arbeit, die wir heute vielerorts beobachten können. Und nicht zuletzt die Kunst sorgt dafür, dass wir immer wieder neu zuschauen, zuhören und denken lernen.

Ein Blick in die Zukunft von protocol

Wir freuen uns darauf, diese vielen Spuren hier in Zukunft zusammenzuführen, zu sortieren und zu kuratieren und miteinander in Verbindung zu bringen. Und wir erinnern uns dabei natürlich immer gerne an kluge Zitate. Zum Beispiel dieses von einem gewissen John Maynard Keynes (1987):

The difficulty lies, not in the new ideas, but in escaping the old ones.

Es gibt also nicht nur viel zu tun, sondern auch viel zu erinnern! Viele dieser Beispiele, Ansätze und Erfahrungen wollen wir in den nächsten Wochen bei protocol genauer erkunden. Dabei werden wir auch immer wieder Gäste einladen, die von ihrem Wissen (und Nicht-Wissen! – auch dazu bald mehr) berichten. Um uns dem ganzen zu nähern, werden sich unsere Beiträge hier grob in drei Kategorien aufteilen:

Ein Blick in die eigene Kristallkugel

Kategorie 1: Konzepte & Grundlagen

Wir beleuchten die Grundbegriffe unserer Arbeit – teilweise in neuem Licht. Dabei interessieren uns Prinzipien aus dem Systemischen Arbeiten und Denken, Erfahrungen mit dem Umgang mit Komplexität in unterschiedlichsten Kontexten – natürlich immer mit dem Blick darauf, was das für eine Organisation bedeutet, die Öffentliche Innovationen gestalten möchte. Wir schauen uns die Bedeutung von Eigenlogiken an, von Innovation vs. Transformation, von Nicht-Wissen und von hybriden und unwahrscheinlichen Allianzen. Gerade der Begriff des Systems ist dabei einer, der heute nicht nur unglaublich prominent wird, sondern auch eine ganze Reihe unterschiedlicher und teils widersprüchlicher Dinge bedeuten soll. Wir versuchen, damit aufzuräumen und den Begriff nutzbar für die heutige Innovationsarbeit zu machen.

Kategorie 2: Übersetzungen

Zweitens werden wir diese Konzepte übersetzen, in die Themen und Herausforderungen, mit denen sich Organisationen der Öffentlichen Gestaltung beschäftigen. Von fairen öffentlichen Orten und Intersektionalität in der Gestaltung öffentlicher Systeme bis zur Messung und Messbarkeit der Wirkung Öffentlicher Innovation; von der Rolle von Entwicklungszusammenarbeit vor diesem Hintergrund bis zu Implikationen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz bei der Gestaltung von Innovation. Wichtig ist uns hier die “Anschlussfähigkeit”, also der Fokus auf anwendbare Erkenntnisse, die auch in der echten Welt unserer Organisationen Bestand haben können.

Kategorie 3: Methoden

Wir werden außerdem berichten von Frameworks, Methoden und Instrumenten, die diese Ansätze in die praktische Arbeit übertragen. Allen voran natürlich der schon oft erwähnte Portfolio-Ansatz. Aber auch innovative Möglichkeiten der Problembeschreibung und -beobachtung, der Kartografierung (Mapping) von komplexen Zusammenhängen, dem Entwickeln von “Deep Demos” und einem systemischen Update von Tools aus dem User-Centered und Service Design.

Das ist eine ganze Menge und wird sukzessive passieren. Dabei werden wir auch mit unterschiedlichen  Formaten experimentieren. Unterwegs freuen wir uns übrigens sehr über Feedback, Anregungen, Nachfragen, Themenwünsche und auch gerne Anwendungsfälle. Und natürlich Kritik! Übrigens ist auch das Abonnieren von protocol eine Art des Feedbacks (das wir sehr schätzen).

Bei all dem gilt wie bei bekanntlich allen Plänen: Änderungen vorbehalten. Oder um es mit Boxlegende Mike Tyson zu sagen: “Everyone has a plan until they get punched in the mouth.”