Die Kunst der Übersetzung

Posted by Simon Höher and Andi Pawelke
— 6 min read
Die Kunst der Übersetzung

Ein Gespräch mit Giulio Quaggiotto

Ein zentrales Prinzip von protocol ist die “Anschlussfähigkeit”. Hinter diesem unhandlichen Wort steckt der Versuch der Übersetzung von Konzepten und Methoden in die Sprache und Formate von Organisationen, die ein Interesse daran haben, Dinge neu zu denken, aber vor allem auch neu zu machen. Das ist alles andere als einfach. Aber es gibt Menschen, die genau das tun. Sie versuchen, traditionelle, bürokratische und mitunter schwerfällige Institutionen von einer Neuausrichtung ihrer Innovationsarbeit zu überzeugen.

Giulio Quaggiotto ist einer dieser Menschen. Und mit ihm haben wir darüber gesprochen.*

“I‘m just a boring bureaucrat”

Giulio Quaggiotto

Giulio bezeichnet sich gerne als “langweiligen Bürokraten”. Dass das nicht zutreffend ist, erkennt man spätestens mit einem Blick auf seine berufliche Vita:

Bis vor Kurzem hat er die globale Strategic Innovation Unit bei UNDP geleitet, eine Organisation mit einem Budget von 6 Milliarden Dollar und über 7.000 Mitarbeiter:innen. Davor war er unter anderem Community Director bei EIT Climate-KIC, der größten öffentlich-privaten Initiative Europas im Bereich Klima-Innovation. Weitere Stationen: die UK Innovationsagentur Nesta, die Weltbank, UN Global Pulse und der World Wide Fund for Nature.

Heute ist Giulio Research Associate am MIT und arbeitet als Innovationsberater unter anderem in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vor allem aber ist er der festen Überzeugung, dass es für unsere Institutionen höchste Zeit ist, neu zu denken und anders als bisher zu handeln, wenn wir den vielen vernetzten Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden wollen.

Was also braucht es, um als Staat, als Verwaltung Innovation und Transformation anders zu gestalten als bisher? Wie können Stiftungen oder NGOs Ansätze und Methoden finden, die das Unvorhersehbare und Unsichtbare von vornherein mitdenken, und dabei helfen, in Systemen und Netzwerken zu denken? Und wie kann all das dennoch Orientierung geben für die tägliche Arbeit?

Aus dem Gespräch mit Giulio haben wir drei Antworten darauf mitgenommen:

1. The map is not the territory

The map is not the territory

Will man eine Organisation auf neue Formen von Innovation einstellen, besteht die erste große Hürde in einer simplen aber fundamentalen Erkenntnis: Innovationsarbeit ist zuallererst Übersetzungsarbeit.

Das gilt für die Perspektiven und Geschichten, die wir täglich hören, für die Einsichten und Wahrheiten, von denen wir lesen, und natürlich für unsere eigenen Modelle und Konzepte selbst. Und vor allem gilt diese Notwendigkeit einer Übersetzungsarbeit für die Frage, wie sich all diese Einsichten übertragen lassen, hin zu konkreten Entscheidungen für die eigene Organisation, für das eigene Team oder sogar die eigene individuelle Arbeitsweise.

Das ist schwierig genug. Gerade wenn es jedoch darum gehen soll, in und mit “Komplexität” zu arbeiten, stellt sich schnell die Frage, wo, wie, und wann diese Komplexität herunter gebrochen (also eben übersetzt) werden kann, um handhabbare und praktikable Erkenntnisse zu erlangen. Keine Organisation kann auf Dauer ein Maximalpensum an Komplexität (ein ewiges "es könnte so sein, aber auch anders sein") aushalten. Dass wir Komplexität verringern ist also nicht das Problem (es ist sogar notwendig) – die Frage ist wie genau wir das tun.

“The more you simplify things, the more you run the risk of distorting them.”

Wenn es um systemische Innovationsmethoden geht, besteht die Gefahr, dass sie als Modeerscheinung, als "Flavour du Jour" nur halbherzig, missverständlich oder unvollständig begriffen werden – und ihre Übersetzung in den jeweiligen Organisationskontext genauso problematisch wird. Dieses ereilte vor wenigen Jahren noch das "Design Thinking". In der systemischen Innovationsarbeit mangelt es mitunter noch an hochwertigen Übersetzungen für die praktische Anwendung. Und das obwohl, oder gerade weil auf konzeptioneller Seite ein reichhaltiges und ausdifferenziertes Forschungsprogramm der letzten Jahrzehnte zur Verfügung steht (auf diese Grundlagen haben wir in der letzten Woche kurz hingewiesen).

Es geht heute also darum, Übersetzungen aus dem reichen konzeptionellen Wissen der vielen Disziplinen, die die Grundlagen für ein Verständnis von Komplexität, dynamischen Netzwerken und Selbstorganisation gelegt haben, zu produzieren und anzuwenden. Wir müssen hin zu einem wirklich sachkundigen und gründlichen Verständnis dieser Konzepte – und das, ohne dabei die Anwendbarkeit in der Praxis aus den Augen zu verlieren. Dieser Balanceakt ist herausfordernd, aber sehr lohnend, auf dem Weg zu einem neuen Modus der Öffentlichen Innovation.

2. Go where the energy is

Go where the energy is

Die Einsicht hinter der Übersetzungsarbeit kann man auch anders formulieren: Es lohnt, mit dem zu arbeiten, was bereits da ist. Das bedeutet, das "evolutionäre Potential der Gegenwart" zu erkunden, statt rückwärts von einem künftigen Idealzustand zu arbeiten. Für Innovationsprojekte gibt es – trotz klarer Projektstarts und strategischen Zeitplänen – nie wirklich einen Beginn ohne Vorbedingungen. Konkret kann das bedeuten, den Blick zu wenden: weg von einer allzu starken Fokussierung auf die zahlreichen Hürden und Barrieren, hin zu bestehenden Ressourcen, Aufmerksamkeiten und Mitstreiter:innen.

Für die Transformationsarbeit in unseren eigenen Organisationen heißt das, nicht große Innovationsprogramme und -strategien am Reißbrett zu entwerfen, nur um dann festzustellen, dass die Resonanz zurückhaltend ist und gewünschte Veränderungen gar nicht erst eintreten. Auch hier gilt die einfache Einsicht: Die Welt ist komplex – auch und gerade die unserer eigenen Organisationen. Langfristige Vorhersagen und lineare Projektpläne scheitern mit großer Wahrscheinlichkeit an all den großen und kleinen Dingen, die wir dabei übersehen und ausblenden.

Stattdessen gilt es, sehr aufmerksam dafür zu werden, was aus dem System (sei es die eigene Organisation oder ihre Umwelt) zurückkommt. Die Stichworte hier heißen Emergenz und "pockets of coherence", also kleine Micro-Systeme, in denen Neues bereits heute Realität ist: Melden sich schon frühe einzelne “lonely champions”, die am meisten leiden und gleichzeitig den Willen haben, für Veränderung zu sorgen? Gibt es Teile des Managements, die wissen, dass neues Denken notwendig ist, um den komplexen Herausforderungen von heute (und morgen) Rechnung zu tragen, denen aber die Methoden und Instrumente fehlen, um das praktisch umzusetzen? Was treibt sie an und was klappt dort schon im Kleinen? Und wo und wie können diese allerersten Rückmeldungen schnell und ehrlich aufgenommen werden?

Das ist leichter gesagt als getan, denn oft sind unsere Organisationen darauf gar nicht ausgelegt. Hier werden auch positive Abweichungen und bestehende Veränderungsbereitschaft  oft nicht als das erkannt, was sie sind – oft zu Gunsten einer besseren Performance oder der Erreichung messbarer Projektergebnisse: “[o]ur systems for learning are much less evolved than our systems for reporting and accountability"

Giulio rät stattdessen, auch und gerade die allerersten Signale und Menschen, die unsere eigenen Aktivitäten hervorbringen wahr- und ernstzunehmen, ihnen zu folgen und mit ihnen gemeinsam an der eigenen Zukunft zu arbeiten:

“Go where the energy is – and figure it out with them.”

Damit wandelt sich schließlich auch unser Selbstverständnis: von Planenden zu Suchenden (from planners to searchers), von Durchführenden zu Entdecker:innen von Lösungen (from project managers to discoverers of solutions) – und zu scharfen Beobachter:innen unserer eigenen Systeme.

3. Spell things out

Turn the last mile into the first mile

Auf lange Sicht bedeutet die Einführung systemischer Innovationsansätze also nichts weniger als eine Neuverdrahtung unserer Organisationen. Giulio spricht von “substantial rewiring", und meint damit, dass sich Organisationen, die Öffentliche Innovation vorantreiben wollen, strukturell neu aufstellen müssen.

Wie würde diese Neuaufstellung konkret aussehen? Abteilungen wären etwa nicht vertikal nach sektoralen Zuständigkeiten wie Bildung, Umwelt oder Digitales aufgebaut, sondern horizontal nach dem jeweiligen Problem ausgerichtet. Ein Beispiel: Die Klimakrise ist ja eben kein Problem, mit dem sich allein die Umweltabteilung einer Organisation beschäftigen sollte, sondern eines, das alle Bereiche des Lebens, des Wirtschaftens und alle Sektoren (z.B. einer öffentlichen Verwaltung) betrifft und dementsprechend angegangen werden muss. Dasselbe gilt für die Digitale Transformation oder Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Solch eine Neuausrichtung ganzer Organisationen hätte enorme Auswirkungen auf Budgets, Personal, Monitoring und Evaluierung und vieles mehr.

Daher ist es oft schmerzhaft, aber nur folgerichtig, offen und ehrlich die absehbaren Konsequenzen und Notwendigkeiten auch zu benennen: “Spell things out.” Ein wirklich neues Denken und Handeln wird nicht ohne Konsequenzen und Kosten für unsere alten und bestehenden Routinen, Strukturen, Rollen und ja, auch Budgets zu haben sein. Die ehrliche Diskussion darüber, welche Konsequenzen wirkliche Veränderung auch für uns selbst mit sich bringen würde, sollte daher durchaus zu Beginn stattfinden, und zwar dort, wo die wirklich ausschlaggebenden Entscheidungen getroffen werden:

“Turn the “last mile” into the “first mile”– focus on cracking the decision-making and on fostering the will to transform early on.”

Mind the Gap

Für uns sind solche Ein- und Rückblicke hilfreich. Dabei geht es gerade nicht darum, einfache Antworten zu finden, die überall repliziert werden sollten. Es geht darum, Taktiken und Muster, Perspektiven und Anekdoten zu sammeln und vor allem die zahlreichen vielschichtigen und vielleicht auch manchmal widersprüchlichen Zugänge zu finden, zu einem neuen Denken und Handeln in unseren Organisationen.

Giulio Quaggiotto: Accelerating Impact of Project Portfolios – Notes from the frontier of [ir]relevance

Dahinter steht nichts weniger als die Frage, ob wir es in Zukunft schaffen, unsere Organisationen und Institutionen auf relevante Problemstellungen auszurichten und dabei einen konstruktiven Arbeitsmodus zu etablieren. Denn: Je größer die Lücke zwischen den systemischen Risiken des 21. Jahrhunderts einerseits und unserer aktuellen Praxis andererseits, desto stärker verlieren unsere Organisationen, unsere Initiativen und Projekte an strategischer Relevanz.

Im folgenden Post werfen wir einen ersten Blick auf das Instrumentarium, das uns dabei zur Verfügung steht. Bis dahin freuen wir uns, wenn Ihr uns weiter Feedback gebt und – wenn Ihr mögt – unser kleines Projekt weiterempfehlt.


*Das Gespräch haben wir auf Englisch geführt.