Portfolios – Teil 1

Posted by Simon Höher and Andi Pawelke
— 7 min read
Portfolios – Teil 1

In unseren bisherigen Beiträgen haben wir versucht, die heutigen Herausforderungen öffentlicher Innovationsarbeit genauer zu beschreiben. Wir glauben, dass ein differenziertes Verständnis von komplexen Zusammenhängen, von Innovations- und Transformationsbegriffen und von unterschiedlichen Problemtypen dabei helfen kann, bestehende Muster zu erkennen und zu durchbrechen.

Wir glauben jedoch auch, dass es mit einer guten Beschreibung nicht getan ist – so zentral diese auch ist. Es braucht auch gute Instrumente, um mit diesem neuen Problemverständnis effektiv arbeiten zu können. Einige dieser Instrumente wollen wir bei protocol näher beleuchten. Wir beginnen dabei mit einem Ansatz, der wahrscheinlich der prominenteste unter den neueren systemischen Innovationsmethoden ist: das Portfolio. Dazu zunächst etwas Kontext.

Die Organisation des Chaos

Wenn es einen Klassiker in der Innovationsarbeit gibt, dann ist es das “Projekt”. Egal ob Stiftung oder Start-up, Verwaltung oder NGO, Unternehmen oder Internationale Organisation, der Modus Operandi einer Innovationsabteilung ist im Kern projekt-orientiert. Unsere Budgets und Ausschreibungen, unsere Roadmaps und sogar unsere Messungen von Wirksamkeit und Effizienz orientieren sich dabei an einer Logik, in denen es konkrete Rahmenbedingungen gibt:

  • Einen klaren Start und ein klares Ende
  • Ein sauber definiertes Problem und eine validierte Lösung
  • Ein klar benanntes Projektteam mit Mandaten und Reports
  • Ein effizientes Verhältnis von messbarem Aufwand und beobachtbarem Impact
  • usw.

Dieses Denken in Projekten erlaubt es unseren Organisationen, Entscheidungen über gute Investitionen, passende Methoden und datenbasierte Evaluationen zu treffen. Es ermöglicht die Zurechenbar- und Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Innovations-Initiativen bei gleichzeitiger zeitlicher und struktureller Flexibilität. Und es passt hervorragend in eine schnelllebige Investitionslogik, in der Iterationen (Build-Measure-Learn) und "Rapid Prototyping" als erprobte Rezepte für Innovation und Skalierung gelten.

So erfolgreich und sinnvoll das Denken und Handeln in Projekten ist, so sehr stoßen Projektlogiken jedoch an ihre Grenzen, wenn es um Öffentliche Innovation, also die gezielte Gestaltung und Veränderung gesellschaftlicher Dynamiken, geht.

Der Grund dafür ist Komplexität. Die Probleme, mit denen sich Öffentliche Innovation beschäftigt, sind von Natur aus komplexer als ihre Beschreibungen in unseren Organisationen ('The Map is not the Territory'). "Da draußen" haben wir es mit Interdependenzen und nicht-intendierten Nebeneffekten zu tun, mit Zeithorizonten, die die unserer Organsationslogiken um ein Vielfaches übersteigen, mit unzähligen Akteuren, Perspektiven und mit Netzwerkeffekten.

Eine Organisation, die demgegenüber in klar definierten, unabhängigen Projekten denkt, ist dieser Komplexität einfach nicht gewachsen. Ihre eigenen Strukturen und Prozesse bringen nicht die erforderliche Vielfalt mit, um der Welt da draußen in Gänze gerecht zu werden. Und das ist auch gut so: Würde sie versuchen, all die vielen Problemdimension auch intern abzubilden würde sie sich vor lauter Komplexität in Handlungs- und Entscheidungsunfähigkeit auflösen, denn die Reduktion dieser Komplexität (oder vll besser: die Organisation dieses Chaos) ist ja genau ihre Aufgabe.

Wie können wir also umgehen mit diesem Kernwiderspruch: Hochkomplexe Herausforderungen auf der einen Seite, zwangsläufige Komplexitätsreduktion auf der anderen? Eine vielversprechende Antwort ist die Arbeit mit Portfolios.

Die Portfolio-Maschine

Das Portfolio als Mechanik von Einzelteilen

Ein Portfolio erweist sich immer dann als nützlich, wenn wir uns unserer Antworten und Entscheidungen nicht sicher sein können: In welche Wertpapiere oder Start-ups soll ich investieren? Für welchen Designentwurf interessieren sich potentielle Kunden am ehesten? Mit welchem Werk vermittle ich meine künstlerische Arbeit am besten?

In diesem klassischen Verständnis bieten Portfolios die Möglichkeit, Investitionen auf eine ganze Reihe von Wetten zu verteilen und so das Verlustrisiko zu vermindern. Wenn eine Wette scheitert, können andere trotzdem erfolgreich sein. Die Pointe ist also ihre Fehlertoleranz und ihre interne Unabhängigkeit: In ein einzelnes Innovationsprojekt zu investieren ist viel riskanter als in ein ganzes Bündel von Projekten, die im besten Fall unabhängig voneinander agieren. So sind sind Falle des Scheiterns einzelner Projekte andere nicht betroffen. Das gilt für Innovationsprojekte genauso wie für Entwicklungsinitiativen. Solche Portfolios wirken also ähnlich wie eine Maschine aus vielen Einzelteilen, bei denen jedes Teilchen sich klar von allen anderen unterscheidet und für sich genommen die Chancen für ein wünschenswertes Verhältnis von Investition und Resultat erhöht.

Portfolios als Netzwerk

Das Portfolio als vernetztes Ökosystem

Klassische Portfoliokonzepte funktionieren vor allem dann besonders gut, wenn sie auf komplizierte Probleme ausgerichtet sind, in denen mit hoher Wahrscheinlichkeit eines der Projekte innerhalb des Portfolios das Problem lösen wird. Im Vergleich zu Einzelprojekten fächern sie zwar das Risiko und damit auch die Fehlertoleranz – im Kern folgen sie jedoch der gleichen (alten) Logik, denn sie ziehen ihre Stärke gerade aus der bewussten Entkopplung und Begrenzung von unterschiedlichen Initiativen. Der Erfolg eines Portfolios bemisst sich hier mit Blick auf die Organisation.

Begeben wir uns jedoch in den Bereich der Öffentlichen Innovation, haben wir es schnell mit “wicked problems” und komplexen Problemkontexten zu tun, die von Interdependenzen und Netzwerkeffekten geprägt sind. Hier geht es um die Gestaltung wünschenswerter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in einem Kontext von vielen vernetzten Rückkopplungsprozessen. Der Erfolg eines Portfolios bemisst sich hier mit Blick auf gesellschaftliche Transformation.

Diese Art der Portfolios interessieren uns bei protocol. Wir können sie als “systemische Portfolios” oder “Portfolios of System Transformation Options” bzw. “Portfolios of Options” beschreiben. Systemische Portfolios wurden von der CHÔRA Foundation entwickelt und sind tief in dem jeweiligen System verankert, auf das sie ausgerichtet sind. Bei dieser Art von Portfolios handelt es sich um mehr als eine Sammlung von (Innovations-)Projekten, die nach Risiko und Ertrag eingeteilt sind. Sie ähneln vielmehr einem Netzwerk aus unterschiedlichsten Instrumenten, kleinen und großen Maßnahmen, Perspektiven, Akteuren, Narrativen und Zeithorizonten.

An effective portfolio for tackling a complex system must be like a managed forest. – Rafael Kauffmann

Hier geht es nicht mehr um das Platzieren von Einzelwetten, sondern eher um das Aufforsten eines Waldes: Während klassische Portfolioansätze versuchen, Investitionen oder Projekte  zu streuen, um Komplexität für eine Organisation in Form von kalkulierbaren Risiko zu reduzieren, blicken systemische Portfolios in die andere Richtung: Sie erhöhen die Komplexität der eigenen Aktivitäten, um so der Komplexität der Umwelt zu begegnen  Die eigenen Aktivitäten werden also selbst komplex und damit nur noch bedingt steuerbar. Dafür setzen sie auf dieselben Mechanismen, die die Herausforderungen für Öffentliche Innovation so besonders machen: Emergenz, Selbst-Organisation, Nicht-Linearität, und Rückkopplungsprozesse.

Dabei gibt es drei zentrale Merkmale, die systemische von klassischen Portfolios (und Einzelprojekten) unterscheiden:

1. Die Richtung zählt

Systemische Portfolios arbeiten auf eine gemeinsame Richtung hin, auf einen Nordstern, aber nicht auf ein konkretes Ziel oder auf einen Zustand. Es geht dabei weniger um die Geschwindigkeit, Kontrolle oder die Erreichung von Zielwerten, KPIs oder einer guten "Portfolio-Performance" als vielmehr um die Koordination einer kollektiven Ausrichtung und die Ableitung von kleinen, dezentralen und individuellen Schritten und Beiträgen, um sich diesem Ziel zu nähern. Systemische Portfolios arbeiten autonom und abgestimmt und erinnern damit an den Vorschlag für eine neue Teamkultur von Hendrik Kniberg:

Vorschläge für eine neue Teamkultur lassen sich gut übersetzen in die Denke hinter systemischen Portfolios. Grafik: Henrik Kniberg

Aus diesem Grund sind sie damit bestens geeignet für die Arbeit im Sinne missionsorientierter Innovationspolitik: Sie definieren eine klare Richtung und sind dabei explizit offen dafür, wo und wie die Arbeit im System stattfindet.

All innovation has both a rate and a direction. – Mariana Mazzucato

2. Vernetzte Optionen

In einem systemischen Portfolio oder einem “Portfolio of Options” steht keine der "Optionen" für sich. Stattdessen geht es um die Verknüpfung unterschiedlicher Elemente mit dem Ziel, Synergien und Rückkopplungsprozesse wahrscheinlich zu machen. Die Intention hinter diesem Ansatz ist es, das Potential und die “Intelligenz” von dynamischen und komplexen Netzwerken zu nutzen. Der Soziologe Dirk Baecker bringt es auf den Punkt:

“Netzwerke sind Formen des Managements durch Komplexität und weniger des Managements von Komplexität.”

Der Begriff der “Option” birgt dabei eine ganze Sammlung von vernetzen Aktivitäten, Interventionen, Maßnahmen, die sehr unterschiedlich gestaltet sein können, von Finanzierungsprogrammen über Trainings bis hin zu Bürgerinitiativen und Kommunikationsmaßnahmen. Gina Belle, Direktorin und CEO der CHÔRA Foundation, beschreibt dies so:

“Options are like explorers; we send them out into the world to bring back things which we didn’t have before. They provide us with new ingredients for a meal, but not the recipe or the final image of the meal.”

3. Strategisches Lernen

Wie auch in klassischen Portfolios werden “Optionen” nicht aufgrund ihrer Einzel-Eigenschaften ausgesucht, sondern basierend auf dem Wert für das Gesamtportfolio. Bei systemischen Portfolios geht es aber vor allem um sog. “kombinatorische Effekte”, die entstehen, wenn neue Optionen an bestehende Aktivitäten anknüpfen oder Lücken füllen, und damit neue Einblicke in mögliche Zukünfte geben. So kann ein strukturierter Lernprozess entstehen, der es erlaubt, zentrale Hebelpunkte (Leverage Points) zu identifizieren und mit der Zeit wiederkehrende Muster und Routinen zu erkennen.

Ein Portfolio wird so zu allererst zu einer Lern-Ressource, die den Fokus verlagert von der Priorisierung schneller (Teil-)Erfolge hin zur gemeinsamen Entwicklung eines Verständnisses über das System selbst. (Dabei sei betont, dass auch die Organisationen und Designer:innen, die diese Portfolios gestalten, natürlich Teil des Systems sind – es geht also letztlich immer auch um ein Lernen über sich selbst). Die zentrale Frage bei der Gestaltung von systemischen Portfolios ist also, welche Optionen es erlauben, die hochwertigsten Informationen für einen Lernprozess zu generieren: “help social systems learn their way into change”.

Portfolios bei protocol: Ein Ausblick

Beispiel eines Portfolios zur Förderung des Start-up-Ökosystems in der georgischen Stadt Batumi, das von CHÔRA und UNDP entwickelt wurde

Systemische Portfolios sind ein unglaublich reichhaltiges, dynamisches und leistungsfähiges Instrument – und befinden sich selbst noch in der Entwicklung und Lernphase. Wir werden in Zukunft noch genauer auf Portfolio-Ansätze eingehen, uns konkrete Beispiele anschauen und dabei den gesamten Prozess von der Entwicklung bis zur Implementierung und Evaluierung beleuchten.

Dabei gehen wir auch auf die Frage der Umsetzung ein, das “dynamic management” von Portfolios, das viel wichtiger ist als der Designprozess selbst. Denn erst die Implementierung, also die Aktivierung von Portfolios und die gezielte Umsetzung von Optionen, bietet die Möglichkeit der Interaktion mit dem System und damit die Grundlage für gezieltes Lernen.

Dabei gilt wie immer: Das Arbeiten in komplexen Systemen ist grundsätzlich von Unsicherheit und Nicht-Wissen geprägt. Daran ändert auch das beste Portfolio nichts. Statt also auf planbare Gewissheiten zu setzen, laden uns Portfolios dazu ein, dieses Nicht-Wissen als Prämisse unserer Arbeit zu setzen und von da aus genauso komplex, dynamisch und vielschichtig zu arbeiten wie die Umwelt, in der wir uns bewegen. John Atkinson und Emma Loftus formulieren es mit Paul Plsek so:

[Working with a living system is less like throwing a stone and more like throwing a bird.] Once it leaves your hand who knows where it may go, perhaps the place you intended but not necessarily by your predicted route. Or it may go somewhere entirely different.