Öffentliche Innovation neu denken
Sprechen wir in Deutschland über Innovation* fallen häufig Begriffe wie Hackathon, Design Thinking oder Skalierung. Es geht um agile Prozesse, um Transformation und natürlich um Geschwindigkeit: Move fast and break things.
Die Innovationsmethoden, die wir dabei anwenden, sind im Regelfall darauf ausgerichtet, Komplexität zu reduzieren, Dinge schnell greifbar zu machen und neue, originelle Lösungen zu finden. Dabei bedienen wir uns der Sprache aus der Welt von Start-Ups und Venture Capital. Wir organisieren Innovation Challenges mit Pitches, versuchen “Impact” zu quantifizieren und beziffern unseren Ressourceneinsatz mit Return on Investment.
Wir sind jedoch davon überzeugt, dass sich die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts weder mit Innovationswettbewerben, noch mit ausgeklügelten Projekt-Master-Plänen oder gar mit der besonders schnellen Skalierung irgendeiner Super-Innovation lösen lassen. Wir glauben sogar, dass es auch genau diese Denk- und Handlungsmuster sind, die uns dahin gebracht haben, wo wir alle gemeinsam jetzt stehen. Mitten in der Polykrise.
Denn auch wenn es den ein oder anderen enttäuschen mag: mit Hackathons “lösen” wir nicht die Klimakrise, Social-Media-Kampagnen bedeuten nicht das Ende von Rassismus und Luftverschmutzung ist nicht allein durch den Einsatz von Sensoren zur Messung der Luftqualität in den Griff zu kriegen.
Wir lösen die Probleme von heute nicht mit den Methoden von gestern.
Unsere Innovationsprogramme ignorieren, dass gesellschaftliche Innovation von Zufällen geprägt ist, vom Unvorhersehbaren und Unsichtbaren, von Netzwerken und Synergien. So lassen sich die meisten Erfolgsgeschichten auch nur “rückwärts” also im Nachhinein erzählen.
Planung und Politik aber findet vorwärts statt. Wie kann man als Staat, als Verwaltung also trotzdem wünschenswerte Innovation und Transformation gestalten, ohne dabei in allzu charmante aber letztlich zu simple Routinen zu verfallen? Wie als Stiftung oder NGO trotzdem eine Strategie finden, die Wirksamkeit in den Mittelpunkt stellt und Orientierung für die tägliche Arbeit gibt? Wie eine gute Balance finden aus methodischer Gründlichkeit und Praktikabilität?
Wir arbeiten seit über 15 Jahren mit öffentlichen und privaten Organisationen – von UNDP über die Weltbank, von DAX 40 Unternehmen über nationale Ministerien und kommunale Verwaltungen bis zu Stiftungen und NGOs. Dabei haben wir immer wieder die selbe Beobachtung gemacht: Organisationen und Institutionen arbeiten oft an schiefgelagerten Teillösungen, in (zu) kurz gesteckten Projektzeiträumen und eng abgegrenzten thematischen Programmen und verlieren dabei “das große Ganze” aus dem Blick.
Zwar gibt es durchaus Herausforderungen, die sich mit den eher “traditionellen” Innovationsansätzen effektiv bearbeiten lassen. Die vielen kleinen und großen Krisen auf einem zunehmend wackeligen Planeten zeugen jedoch von den immer wieder ausgeblendeten Kosten und langfristigen Konsequenzen.
Das wollen wir ändern.
Wir glauben, große Herausforderungen wie die Klimakrise oder die digitale Transformation erfordern eine wirklich neue Denke. Ein tieferes Verständnis für komplexe Zusammenhänge kombiniert mit neuen Ansätzen und Werkzeugen, die Erkenntnisse aus der Gestaltung von komplexen Systemen praktisch umsetzen. Jenseits von Buzzwords und mit Ruhe, Gründlichkeit und einem offenen Blick für Neues.
Das Gute ist: Wir sind nicht allein. Es gibt vielversprechende Ansätze, Akteur:innen und Instrumente, von denen wir lernen können. Auf dem Weg, öffentliche Innovation neu zu denken, sammeln und teilen wir daher eigenes Wissen, sprechen mit Expert:innen von Organisationen wie UNDP und OECD und stellen praktische Werkzeuge und konzeptionelle Grundlagen zusammen. So wollen wir helfen, einen methodischen Grundstein zu legen, um öffentliche Innovation wirklich neu zu denken.
Den Anfang machen wir mit einem Blick auf die Ausgangslage und eine einfache Frage:
Was läuft schief?
Warum führen uns viele Innovations- und Transformationsansätze von heute nicht aus den aktuellen Krisen sondern im Zweifel sogar weiter in sie hinein? Warum helfen sie uns nicht dabei, besser auf die Herausforderungen von morgen vorbereitet zu sein sondern replizieren alte Ungewissheiten? Und warum bleibt das so, obwohl viele eigentlich schon verstanden haben, was gerade schief läuft?
Wir glauben, dahinter liegen einige Grundannahmen, die uns schon bevor es los geht oft falsch abbiegen lassen. Schauen wir uns vier davon etwas genauer an:
- Wir verwechseln den Problemkontext
- Wir suchen nach der Silver Bullet
- Wir wollen einzelne Lösungen “skalieren”
- Wir verpassen die Chancen von Nichtwissen
Problem 1: Wir verwechseln den Problemkontext
Auch wenn “kompliziert” und “komplex” im Alltag häufig synonym verwendet werden, so macht es doch einen erheblichen Unterschied ob wir ein Problem als kompliziert oder als komplex bezeichnen. Das ist eine Einsicht, die mittlerweile fast ein Gemeinplatz ist – die Konsequenzen, die aus der Kontext-Verwechslung für unsere Strategien folgen, haben es aber kaum in den Alltag unserer Organisationen geschafft.
Das Beispiel ist bekannt: Eine Uhr zu reparieren ist alles andere als einfach, aber Expert:innen mit dem notwendigen Fachwissen sind dazu in der Lage. Die einzelnen Teile dieser Maschine stehen in einem kausalen, linearen Zusammenhang. Funktioniert ein Teil nicht mehr, kann es ausgetauscht werden, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Es ist also relativ klar, welche Ursache welche Wirkung hervorbringt. Und selbst wenn nicht, so lässt sich durch Experimentieren verlässlich immer wieder der selbe Effekt durch die immer wieder selbe Intervention replizieren. Es handelt sich um ein kompliziertes Problem.
Je mehr wir den Blick weiten, desto deutlicher werden jedoch die Voraussetzungen, die hinter diesem komplizierten Problem stecken: die Wertschöpfungsketten der notwendigen Materialien und Ressourcen, die Ausbildung der Expert:innen, die die Uhr reparieren sollen, die Herstellung der Uhr selbst und nicht zuletzt die Frage, welche Zeit die Uhr denn nun wo genau eigentlich messen soll. Es wird deutlich: Die Beschreibung (und Lösung) eines komplizierten Problems setzt also immer die Vorarbeit und Vorgeschichte eines komplexen Systems aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, pädagogischen, wissenschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen voraus.
Dasselbe Prinzip gilt insbesondere für öffentliche Innovationen: für den Bau von Radwegen (kompliziert) und die Gestaltung nachhaltiger Mobilität (komplex) ebenso wie für den Bau von Co2-neutralen Gebäuden (kompliziert) und die Gestaltung von nachhaltigen urbanen Infrastrukturen und Wertschöpfungsketten (komplex), usw.
Wenn es nun um öffentliche Innovation geht, ist die Versuchung groß, ebenfalls in eindeutigen kausalen Zusammenhängen zu denken, also Herausforderungen zunächst als kompliziert zu bezeichnen, die es eigentlich nicht sind. So lassen sich schließlich Budgets und Mehrheiten organisieren: Wenn wir nur x machen, können wir davon ausgehen, dass y folgt (x→y). Doch dieses Denken in Ursache und Wirkung wird Systemen, die über unzählige Faktoren miteinander verknüpft sind, nicht gerecht. Eine Intervention an einer Stelle löst Wechselwirkungen an anderer Stelle aus, ohne dass abzusehen wäre, wo und welcher Art diese Veränderungen sein werden. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass eine Wiederholung derselben Intervention plötzlich ganz andere, neue Ergebnisse hervorbringt. Was soll man da noch planen – und was messen? Wir haben es nicht mit linearen sondern mit zirkulären Wirkungsketten zu tun, von denen oft nicht mal alle Faktoren bekannt sind (x → y, y →z, z→x).
Komplexität ist also (auch) eine Frage des Filterns: Je mehr wir uns erlauben außen vor zu lassen, desto handhabbarer wird das Problem – und desto voraussetzungsvoller und damit riskanter die Lösung: wer weiß schon, ob gerade das richtige ausgeblendet wurde? Das ist so lange in Ordnung wie wir uns dessen bewusst sind und wir diesen Filtern, Voraussetzungen und Risiken aktiv in unseren Planungen und Strategien einbeziehen. Solange das nicht passiert, haben wir ein Verwechslungsproblem, das zwar oft gut klingt aber immer wieder für Ernüchterung sorgt. H.L. Mencken bringt es auf den Punkt:
"For every complex problem, there's a solution that is simple, neat, and wrong."
Problem 2: Wir suchen nach der Silver Bullet
Apropos gut klingen: Auf der Suche nach den rettenden Innovationen setzen viele Organisationen auf Innovationsmethoden, die dabei helfen sollen, die eine vermeintlich beste Lösung aus vielen herauszufiltern.
Wir setzen auf Wettbewerb und den Ausschluss von anderen potentiellen Lösungsansätzen (“selection by elimination”) in dem Glauben, dass wir nach genügend Iterationen und Prototypen schon die eine Lösung finden werden.
Dieses Innovations-Ausschlussverfahren setzt auf kurzfristige Effekte, schränkt mögliche (positive) Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Interventionen ein und verhindert eine breite und robuste Wirkung durch Veränderungen an verschiedenen Stellen eines Systems.
Die Versuchung ist groß auf “silver bullets” und “magic unicorns” zu setzen, statt uns einzugestehen, dass die meisten nachhaltigen Lösungen in einem Zusammenspiel aus vielen, oft zufälligen und langfristigen Faktoren, manche davon sichtbar und noch mehr davon unsichtbar, entstehen. Das ist eine weitere Eigenart von komplexen Problemen: ihre Lösungsansätze müssen in der Regel genau so komplex sein.
Was wir also brauchen sind breit angelegte Portfolios, d.h. eine ganze Reihe von parallelen und vernetzten Lösungsansätzen, die auf lange Zeithorizonte angelegt sind, organisch wachsen und sich gegenseitig verstärken. Dabei geht es nicht darum, lediglich eine Vielzahl von lose zusammenhängenden Projekten unter ein Portfolio zu gruppieren. Vielmehr müssen diese alle auf das komplexe Problem ausgerichtet sein, miteinander in Beziehung stehen und im Laufe der Zeit voneinander lernen.
Problem 3: Wir wollen einzelne Lösungen “skalieren”
Die Idee, dass einmal Bewährtes auch an anderen Orten und unter anderen Umständen funktioniert, ist verlockend. Daher versuchen wir, erfolgreiche Lösungen breitflächig zu skalieren. Das Rad wird nicht neu erfunden, Ressourcen werden effizient eingesetzt und Erfolg wird repliziert.
Dieser Gedanke entpuppt sich jedoch häufig als trügerische Illusion, die erhoffte Wirkung stellt sich nur in wenigen Fällen ein. Dazu Charlie Leadbeater vom Institute for Innovation and Public Policy des University College London:
“Scaling innovative solutions, within existing systems, has proven to be the elusive holy grail of social entrepreneurship and innovation. Very few social innovations, despite evidence of their effectiveness, achieve the scale their innovators hope for. Most remain trapped on location, unable to grow beyond the specific conditions where they initially emerged. Few gain traction over the larger systems in which they work. When they do manage to scale that often comes at a price: the innovation has to conform to the system, finding a slot within it rather than changing the way it works.”
Die Gründe dafür sind vielfältig. Skalierungsansätze basieren häufig auf den Modellen und Erfolgsgeschichten (einzelner) Start-ups, die es geschafft haben, in kurzer Zeit enorm zu wachsen (zu skalieren). Zum einen stellen diese aber eine kleine Zahl von Ausnahmen dar. Zum anderen haben Start-ups nur sehr wenig gemein mit Organisationen, die komplexe soziale, politische oder ökologische Probleme bearbeiten und sich nicht leisten können, Konsequenzen zweiter oder dritter Ordnung einfach als irrelevant auszublenden.
Sind die bestehenden Skalierungsmodelle für öffentliche Systeme also einfach nicht ausreichend da zu eng definiert und zu zeitintensiv? Oder gibt es neben der Skalierung bestehender Lösungen einen anderen Ansatz?
Vielleicht ist eine komplette Abkehr von der Skalierungs-Idee notwendig. Vielleicht bedarf es aber auch der Kombination von Skalierung und der gezielten Veränderung von tieferliegenden Bestandteilen von Systemen: von Mustern, Strukturen, mentalen Modellen und grundlegende Annahmen, wozu bestehende Skalierungsprogramme nur bedingt imstande zu sein scheinen.
Problem 4: Wir verpassen die Chance von Nichtwissen
“We set our objectives, then close our eyes and walk towards those objectives” Ein Workshop-Teilnehmer
Aus der Arbeit mit Portfolios folgt noch eine weitere Einsicht: Häufig lernen wir erst in der eigentlichen Bearbeitung des Problems, also in der praktischen Umsetzung, was funktioniert und was nicht (“learning our way to a solution”). Jeweils passende Lösungen lassen sich nicht einfach skalieren oder replizieren. Vielmehr verändern sich Probleme und mögliche Lösungsansätze je nach Kontext, Ort, Zeit und Beteiligten. Je mehr wir über uns und unsere Arbeit lernen, desto größer und komplexer werden ihre Zusammenhänge, Vorbedingungen und Sonderfälle. Wie gehen wir heute damit um?
“Wir behelfen uns mit Szenarios und Simulationsmodellen, nur um schon bei unrealistisch geringer Komplexität auf Unprognostizierbarkeit zu stoßen. Wir kategorisieren Störungen als Irrtümer, so als ob wir das richtige Wissen oder seine Anwendung nur verfehlt hätten. Wir beschränken uns auf Aussagen über Wahrscheinlichkeiten bzw. Unwahrscheinlichkeiten, deren Berechnungsgrundlagen strittig bleiben und von Moment zu Moment korrigiert werden müssen.“ Niklas Luhmann
Kurz: Unsere Organisationen weigern sich, Nichtwissen (not-knowing) strukturell einzugestehen – und verpassen somit genau die notwendigen Chancen auf wirkliches Lernen und (Selbst-)Transformation. Welche Stiftung, welche Verwaltung veröffentlicht schon einen Jahresbericht des Scheiterns, des Durchwurschtelns und Trotzdem-Weitermachens?
Dabei geht es um mehr als um “Fehlerkultur” oder Fuckup Nights. Nämlich um Nichtwissen als Startbedingung für einen Gestaltungsprozess, der das Nicht-Vorhersehbare als zentrale Komponente in unsere Design- und Innovationsarbeit einführt: Nicht als Störung, sondern als Baustein für sukzessives, gemeinsames Verstehen der Herausforderungen und damit verbundenen Strategien. Denn nur so können wir wirklich neu denken. Der Designtheoretiker Ranulph Glanville sagt dazu:
"The new is beyond prediction."
Vermutlich wären genau das die Spuren eines gemeinsamen Lernprozesses, der mit dem alten Muster unserer Projektpläne bricht: Dem Beginn mit der Definition eines Idealzustands (x Veränderungen in diesen und jenen Bereichen) und die Arbeit rückwärts, hin zu den heutigen Aktivitäten und Maßnahmen. Wenn wir stattdessen wirklich akzeptieren, dass komplexe Dynamiken letztlich unvorhersehbar sind, eröffnet uns das die Möglichkeit, von der Welt auszugehen wie sie ist, und vom Bestehenden einen praktikablen und überraschenden Weg zu bevorzugten Zukünften zu gehen.
Wie würde ein Projektplan aussehen, der nicht vorhersagt, also nicht in fixen Zeiten und Projektphasen denkt, sondern auf Gesprächspartner:innen setzt, auf Experimente, auf Überraschungen und „erstmal noch nicht getroffene” Entscheidungen? Ein Anti-Plan, dessen Plan es ist, so wenig wie möglich vorwegzunehmen und trotzdem zu gestalten?
Ok. Was nun?
In den kommenden Wochen stellen wir euch vor, wie die oben beschriebenen Probleme angegangen werden könnten, welche Ansätze und Methoden dazu geeignet sind, wer diese bereits aktiv anwendet und was wir davon lernen können.
Wir schreiben über Prinzipien der systemischen Arbeit, erläutern die Funktionsweise von Innovations-Portfolios und laden Gäste dazu ein, von ihrer Arbeit zu berichten.
Wir werden auch erläutern, wie wir Menschen und Organisationen darin unterstützen wollen, öffentliche Innovation in Deutschland neu zu denken – und selbst umzusetzen.
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*Wir nutzen den Begriff öffentliche Innovation hier für gesellschaftliche, soziale, ökologische, wirtschaftliche und viele andere Transformationsprozesse, die neue Möglichkeiten eröffnen und dabei gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen. Das kann durch den Einsatz von digitaler Technologie geschehen – muss es aber nicht.